Kurzgeschichten

Ein Schaf klagt an



Unprofessionell, dilettantisch, disziplinlos


Blöken kann jedes Schaf. Aber daß ein Schaf denken kann, das habt ihr noch nie gehört. Ich bin ein Schaf, das denkt. Scharf denkt. Eines der 99. Ich weiß, die anderen sind wieder zu faul, auf den Putz zu klopfen. Sie haben mich vorgeschickt, um mal wieder Protest anzumelden.

Unprofessionell, sage ich – einfach unprofessionell, was heute passiert ist. Kein professioneller Hirte macht so etwas. Das ist doch dilettantisch: 1 zu 99. Das rechnet sich doch nicht. Ein Schaf – das ist der übliche Reibungsverlust. Eines springt schon mal über die Klinge. Nicht ohne eigene Schuld wohlgemerkt.

Jeder von uns weiß: wer ausschert, geht kaputt. Disziplin ist alles. Das haben wir von Schafesbeinen an gelernt. Das Leben besteht nur, wer sich anpaßt und brav hinterhermarschiert. Das muß in jeden Schafskopf reinpassen. Denkt ihr nicht auch?

Und heute passiert so etwas Unprofessionelles: Unser Hirte läuft dem einen Ausreißer  nach. Als ob wir alle für ihn Luft wären. Und die ganze brave Erziehung in unserer Herde ist den Bach runter. Wenn unser Hirte erstmal mit dem Nachlaufen beginnt, dann er die ganze Hammelherde nicht mehr zusammenhalten.

Und das wäre doch schlimm. Wo wir uns doch an den eigenen  Stallgeruch gewöhnt haben. Und in der Gemeinschaft zusammen stinken ist doch so warm und schön. 

Besonders hier in der Wüste. Um uns viele Gefahren. Warum muß nur das eine Schaf solche Probleme machen? Und was hat unser Hirte für einen Narren an diesem Ausreißer gefressen! Ich will und kann das nicht verstehen. Immer diese Extrawurst für die Exoten. Und wir ordentlichen Schafe werden im Stich gelassen. Ich könnte mich aufregen!

Ganz kribbelig werde ich noch! Und wenn es Nacht wird – hier in der Wüste. Und wenn es Streit gibt – bei so viel dummen Schafen keine Kunst.

Also ich bin nicht verantwortlich für diese undurchsichtige Situation. Am meisten bin ich verärgert über unseren Hirten. Das ist ja waghalsig – einfach unprofessionell. Kein normaler Hirte macht so etwas. Ich warte. Mehr bleibt mir nicht übrig.

Ruhig mal – Schafsköpfe, hört mal auf zu blöken. Ich höre da etwas. Ganz weit weg. Ein kleiner Punkt in der Ferne. Er kommt näher. Unser Hirte! Aber das Schaf sehe ich gar nicht neben ihm laufen! Der wird es doch jetzt angebunden haben. Noch einmal läuft dieses dumme Vieh nicht weg. Aber ich sehe es nicht.

Ganz deutlich: Es ist unser Hirte. Ich erkenne ihn an seinem Schritt. Irgendwie läuft er anders als sonst. Beschwerter. Ja, was sehen meine Schafsaugen: Das ist die Höhe: der hat das Schaf auf der Schulter. Der trägt das Schaf. Nach Hause. Davonlaufen konnte es doch auch selber. Warum trägt er es jetzt heim? Das hat doch gerade dieses Schaf nicht verdient. Ich stelle mich stur. Ich sehe das alles nur nicht.

Ich will auch gar nicht wissen, was das in unserer Herde für Konsequenzen hat. Für die Erziehung der Jungschafe!

Aber unser Hirte ist ganz anders. Wo war er denn? In welchen Abgründe hat er denn gesucht? Der ist ja ganz zerschunden. Und er ist ganz zerstochen.  Dornen – diese gefährlichen, großen, spitzen Dornen. Sein Kopf! Seht, der blutet ja. Viele Wunden. Und die Hände blutig. Und der Rücken – ganz aufgerissen. Ja, wo war denn unser Hirte? Der war ja ganz unten – im Tal des Todes. Der war ja ganz weit weg. Der war ja verlassen. Mein Gott – mein Gott. 

Was haben sie denn mit ihm gemacht? Und das alles wegen des einen Schafes. Der hat ja sein Leben aufs Spiel gesetzt. Nur wegen des einen. Das macht doch kein Mensch! Aber unser Hirte hat das gemacht. Und sein Gesicht leuchtet. Freut er sich über ein Schaf so sehr? Was soll ich denn darüber denken?

Geht das in meinem Schafskopf rein? Daß er sich so über das Gefundene freut. Daß ihm der einzelne so wichtig ist? Daß er keinen verlieren will. Daß er keinen Reibungsverlust hinnimmt, sondern sucht, bis ihm das Leben ausläuft. Keiner soll verlorengehen!

Fehlt bloß noch, daß er wegen des ganzen Vorfalls auch noch ein Fest veranstaltet. Am liebsten würde er es der ganzen Stadt bekanntmachen, daß er das eine Schaf wieder gefunden hat. Der posaunt es noch durch die ganze Welt: Freut euch! Und wenn er den Himmel einladen könnte, dann würde er es auch noch bis in den Himmel bekanntgeben: Einer ist so wichtig, daß ich alles dransetze, um ihn zu finden.

Immer habe ich gedacht, ich sei das klügste Schaf in der ganzen Herde. Aber heute ist etwas passiert, was meine grauen Zellen noch nicht fassen können. Unser Hirte verlässt alle Regeln der Kunst und geht auf die Suche. Er will keinen verlieren. Er riskiert sein Leben und nimmt das ganze Lebensrisiko des Ausreißers auf seine Schultern. Er trägt das Verlorene heim und macht daraus ein Fest. Fehlt nur noch, daß er unsere ganze Herde zu diesem Fest einlädt. 

Und ehrlich: als wir plötzlich allein waren, als er ging, da war mir ganz schön mulmig zumute. Da habe ich plötzlich gemerkt: Wir sind verloren ohne ihn. Wir waren 99 Verlorene ohne ihn. Und wir waren in der Wüste. Und die Nacht kam. Und die wilden Tiere. So schnell kann man verloren sein. Deshalb ist es doch gut, daß er das eine suchte.

Jetzt weiß ich: Er würde auch mich suchen. Würde? Wenn keines verschütt gehen darf, dann kann ich auch nicht verloren sein. Dann bin ich ihm auch wichtig. Dann bin ich unersetzbar.  Dann nimmt er mich auch auf seine Schultern. Dann hat er sich auch wegen mir verletzt. Dann geht er auch wegen mir ins Tal des Todes.

Hoffentlich bleibt das in meinem Schafskopf drinnen. Ich gehe niemals mehr verloren. Ich bin ihm wichtig. Das muß doch selbst ein Schaf begreifen!

Pfarrer Herrmann Traub, Kraichtal, ist Generalsekretär des badischen CVJM. Diese „Schafspredigt“ hielt er beim Deutschen Evangelisationskongress „weitersagen“ in Stuttgart.


Copyright:  Silke Maisack