Kurzgeschichten

Die Geschichte von den Weizenkörnern



Schwester Renate, aus einem Rundbrief der Jesus-Bruderschaft Gnadenthal


In einem großen Weizenfeld stand eine Ähre mit vielen kleinen Körnern darin, die geborgen und behütet in ihrem kleinen Häuschen saßen und auf das große Leben warteten. Und während sie so warteten und wuchsen und reiften, machten sie sich ihre Gedanken und sprachen über ihre Wünsche.

„Ich möchte einmal viel erleben“, sagte das erste, „und die Welt sehen; endlich einmal etwas anderes als dieses Weizenfeld!“

Das zweite sagte: „Ich möchte ein sinnvolles Leben, das für die Menschen nützlich ist!“

Das dritte und das vierte Korn pflichteten ihm bei: „Ja, das wollen wir auch! Wir wollen dem Hunger in der Welt wehren.“ 

Das fünfte Körnchen aber liebte sich selbst und wollte lieber in Ruhe sein Leben genießen. 

Körnchen Nummer 6 schaute in die Ferne und sagte sehnsüchtig: „Ich möchte Gottes Geheimnisse sehen!“

Und es geschah,daß der allmächtige Gott die Wünsche der Ährenkinder hörte und beschloß, jedem Körnlein zu geben, was es begehrte.

Und als die Körnlein dick und reif waren und die Ernte kam, da fiel das erste, das die Welt sehen wollte, neben dem Sack auf den Wagen und fuhr die lange Strecke vom Feld zur Scheune, vorbei an Wiese und Wald, an Häusern, Menschen, Gärten, an Rinderherden, die von der Weide kamen, und Schulkindern, die von der Schule kamen. Und es schaute und schaute. Dreimal fuhr es vom Feld zur Scheune und von der Scheune zum Feld. Dann fiel es an einer holprigen Wegstelle vom Wagen und wurde von den Rädern zerquetscht.

Das fünfte Körnlein, das sich selber liebte, kam erst gar nicht auf den Wagen. Es hatte Angst vor dem Mähdrescher und sprang vorher auf die Erde. Da genoss es die Luft und den Sonnenschein und schloß Freundschaft mit einer Ackerwinde und einem Marienkäfer – bis ein frecher Spatz kam und es einfach aufpickte.

Die anderen Körnlein fielen alle miteinander in einen großen Sack und kamen in die Scheune. In dem Sack war es ziemlich dunkel und sehr eng. Sie stießen und drückten sich gegenseitig. Es war nicht mehr so schön wie in ihrer Kinderstube, wo jeder sein eigenes kleines Häuschen an der großen Ähre hatte.

Die Körnlein, die ein sinnvolles Leben haben wollten, wurden eines Tages mit einer großen Schippe zusammen mit vielen anderen aus dem Sack geholt und in die Mühle geworfen.

Körnchen Nummer 4 ahnte, was da kommt, und sprang schnell von der Schippe ab – zurück in den Sack. „Nein, Nein! Das ist zuviel! Da verliere ich ja meine Identität. Ich will mein individuelles Leben leben. So eng mit den anderen zermahlen und verbacken werden, das ist doch geschmacklos!“

Der allmächtige Gott achtete den Wunsch des Körnleins. Und am nächsten Tag griff die Bäuerin es mit einer Handvoll anderer Körner und streute sie alle mit weitem Schwung in dem Hühnerhof. Jedes hatte Weite um sich und sein individuelles Plätzchen; und jedes wurde einzeln und individuell von den Hühnern gefressen

Die anderen beiden aber, die in die Mühle geraten waren, wurden gemahlen und im Ofen gebacken zu knusprigen Brötchen. Und am Morgen beim Frühstück durften sie die Kinder satt machen.

Nun blieb noch das sechste Körnchen mit seinen hohen Gedanken und Sehnsüchten, und das kleine siebte, das ein wenig einfältig war. 

Und der allmächtige Gott dachte an sie und dachte sich etwas ganz Schönes für sie aus. Körnchen Nummer 6 kam eines Tages auch in die Mühle und in die Backstube und mußte durch die gleichen schmerzhaften Prozesse gehen wie seine Brüder vorher und mit vielen anderen zusammen zum Brot werden.

Es wurde aber kein knuspriges Brötchen für den Morgenkaffee, sondern es kam auf den Altar der kleinen Dorfkirche. Und als der Geistliche Gebet und Segen sprach und das Brot emporhob, da spürte es im Innersten das unaussprechliche Geheimnis Gottes und verlor sich selbst darin.

Das kleine siebte Korn aber griff der Bauer nach einiger Zeit mit seinen Brüdern, die auch noch übrig waren, und fuhr sie wieder zurück zum Acker. Mit gleichmäßigen Armbewegungen warf er sie in die schwarze Erde. 

Dann kam die Egge und der Boden schloß sich über ihnen. Körnchen Nummer 7 wußte nicht, was mit ihm geschah; aber es war zu einfältig, um sich viele Gedanken zu machen. Es blieb still im Dunkel und ertrug die Schmerzen und Veränderungen, die es in sich fühlte, bis es in der Erde starb.

Und nach einigen Monaten wuchs dort, wo es gestorben war, eine Ähre auf, die dreißig Körner trug. Der allmächtige Gott lächelte und nahm sieben davon für sich auf den Altar, und sieben warf es er wieder auf den Acker – und alle, die noch übrig waren, bekamen die Kinder als Frühstücksbrötchen.


Copyright:  Silke Maisack